Ein bemerkenswertes Comeback

Zuletzt hat mich FFG zunehmend enttäuscht, seien es VdW2 oder das unsägliche Reisen durch Mittelerde. Die Grenzen zwischen App und Brettspiel verschoben sich immer weiter zu Ungunsten des Brettspiels. Teilweise brauchte man weder die Spielfelder, noch den Aufbau, um Spielzüge noch adäquat umzusetzen. Umso mehr war ich ernüchtert, als FFG die ersten Aufnahmen des neuen Descents anpriesen. Allen voran der Livestream versagte völlig dabei, die Designstärken dieses neuen Descents aufzuzeigen. Ich stieg direkt ein in den Chor der App-Gegner - ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass aus diesem Spiel noch irgendwas Brauchbares herauskommen konnte. In einem Moment der Schwäche legte ich mir es doch zu...und meine Güte...was sollte ich falsch liegen...

Alle Stärken und Schwächen basieren auf dem Schwierigkeitsgrad WARFARE und der Tatsache, dass die gesamte Gruppe die App am Tisch per PC einsehen kann. Anders würde ich Descent nicht spielen wollen und auch nicht empfehlen.

- App ist extrem dominant - in jedem Spielzug muss die App mehrfach bedient werden, seien es Zustände, Angriffsziele, Unterbrechungen oder Interaktionen mit Gegenständen - wer also keine App in Brettspielen akzeptieren kann und nicht auf Bildschirme starren will, sollte einen großen Bogen um dieses Descent machen

- Dialoge oft zu lang und von stark schwankender Qualität (selbst auf Englisch)

- nicht alle Helden sind gleich spannend zu spielen - mit Kehli werde ich z.B. nicht so richtig warm (Galaden und Vaerix sind Rockstars)

- KI im Designansatz nur solide

- eine Rästelquest speziell ist einfach nur scheiße ;)


+ Descent = Spielmotivation: Bisher ist mir kein Crawler unter gekommen, der an so vielen Motivationsschrauben dreht: das nächste Rezept, der nächste Skill, die nächste Szenarienidee, die nächste Monstervariation, die nächste Monstertaktik...hier gibt es so viele Karotten, dass immer eine vor dem Spielerauge herumbaumelt

+ Crafting = Optimierungsfreude: Das Equipment zu optimieren, in dem man neue Griffe etc. an die Waffen schraubt, ermöglicht, Synergien zwischen den Waffen EINES Helden, aber eben auch der Heldengruppe zu bauen, so dass es zu wahren Schadenssynergien kommt (Vaerix macht pro Zustand auf Gegnern mehr Schaden - je mehr Zustände die anderen Helden machen, je länger sie verlängert werden, desto heftiger schlägt Vaerix zu). 35 Schaden und mehr in einem Schlag und dazu noch alle anderen Monster mit Kollateralschäden versehen - da flackert der Monitor!

+ Handkarten- und Ressourcensystem = Das Flippen der Karten, das sinnvolle Einsetzen der Skills, das Abwerfen und Aufladen von Tokens hält den Heldenzug auch auf längere Sicht dynamisch. Kombos bauen, Karten im richtigen Zeitpunkt einsetzen (siehe oben = erst Zustände provozieren und dann erst den maximalen Schaden wirken lassen)

+ Positionsspiel (und Zustände) : Descent ist ein sehr dynamisches Spiel. Gegner auf Abstand halten, andere fokussieren und möglichst schnell wegschlagen, damit sie vor allem in späteren Abschnitten einer Quest auf Warfare einen Helden nicht oneshotten. Zustände werden sinnvoll eingesetzt, um zum Beispiel per SLOW die Gegner auf Distanz zu halten und per DOOM diese Zustände auch in folgenden Runden aufrecht zu erhalten. Dabei werden immer wieder die Felder gezählt, die Bewegungen der Gegner antizipiert, die Taktiken eingepreist. Einige sagen, Descent sei kein Brettspiel mehr. Für mich auf WARFARE kein Stück nachvollziehbar. Auch Geländeeffekte (Lava) per Push provozieren und per DOOM verlängern. Gerade hier brilliert die Kombination aus App und Brettpositionsspiel.

+ WARFARE: Die Tatsache, dass die Gegner auf Warfare alle 4 Runden mehr Schaden machen und dadurch das letzte Drittel eines Szenarios immer gefährlich wird, sorgt dafür, dass sich die oben angesprochenen Aspekte (Positionsspiel und Zustände) große Bedeutung haben.

+ Weakness-System: Das sinnvollle Nutzen von Weaknesses bereichert auf Warfare das Ressourcen-/Kartenmanagement. Wer nen Golem mit 79 Leben oneshotten will, braucht Schadenmaximierung. Zwei normale Angriffe ohne Weakness werden ihn nicht knacken, vor allem, da der Golem bis zu 10 oder sogar mehr Schaden rausblocken kann.

+ Fähigkeiten und speziell Taktiken der Monster: So simpel, wie genial. Die Monster kündigen, abhängig von ihrem eigenen Zuständen, Taktiken an, die sie in ihrem nächsten Spielzug verfolgen. Schaden auf Helden umlenken? Immunität? Selbstheilung? Teleportation? Mehrfachangriffe? Dadurch gewinnt das Taktikspiel, da sie eingepreist werden müssen und man nicht einfach nur nach HPs und Rüstung gehen kann. Dazu kommen eben die Effekte, dass Monster sowohl aktive Angriffsfähigkeiten als auch passive Defensivfähigkeiten haben. Der Golem bufft temprär immer weiter seine Rüstung, während andere Monster permanent Stats boosten etc.

+ Spiel steht im Vordergrund, den Upkeep macht die App: Bei manchen Vertretern des Genres (z.B. S&S) verkommt der Upkeep zur Selbstbeschäftigung. Fraglich manchmal die Auswirkungen auf das Spiels. Descent dreht es um: Der sinvolle Einsatz von Zuständen obliegt dem Spieler, das Tracking nicht. So soll es sein. Dabei ist aber die App nicht nur eine Ökonomie-Verbesserung. Die Designer haben sich offenbar gedacht, wozu sie die App gewinnbringend für das Spiel einsetzen können und wo analoge Lösungen womöglich nur schwer (ökonomisch) oder sogar gar nicht möglich sind (Weaknesses / prozentuale Buffs, die sich mit Zuständen (Dazed) auch nochmal verändern)

+ Monsterrecycling = wenige Minis, dafür die Monster variieren. Nebelgolem - ich hasse dich!!! :evil:

+ Traits: Das aktive Auswählen von Zielen und deren Belohnungen für die Progression ermöglicht nicht nur Individualisierung, sondern sie beeinflusst auch direkt das Taktikspiel. Mein Trait will, von mir, dass ich zwei unverwundete Gegner angreife. Dadurch reduziere ich aber die Chance, Gegner zu oneshotten. Also möglichst durch Zustände trotzdem die Gegner so manipulieren, dass sie diese Runde keine Gefahr darstellen.


FAZIT: Wir sind fast durch mit der Kampagne. Wenn jetzt nicht noch viel schief geht, hat FFG einen großen Wurf im Crawler-Sektor geschafft. Es schließt die Lücke, die Descent 1 nach Doom damals gelassen hat - einen Crawler, den man jeden Tag spielen kann, ohne, dass er an Spielmotivation einbüßt. Die schiere Zahl an Motivationskarotten ist bemerkenswert. In diesem Genre muss man oft mit Kompromissen leben. Spiel A kann den Spielerzug so toll, aber die KI ist scheiße. Spiel B hat so tolle Szenarien, aber die Helden machen immer dasselbe. Spiel C hat so tolles Looting, aber das Balancing passt nicht. Descent macht so viel richtig, wie wenige Mitkonkurrenten und hat dabei so viel Spielfluss. Wir suchen immer wieder einen Crawler, der das Gefühl von Diablo, die Essenz der Sammelsuchtspirale, bedienen kann. Wenn jetzt das Setting noch anders wäre, würde ich sagen: Wir haben es - Diablo, das Brettspiel! Die App ist dabei der größte Kompromiss, den man schlucken muss. Wenn du das kannst, schalte auf WARFARE und lass es scheppern.