Ethnos und das doppelte Nash-Gleichgewicht

  • Mal ein paar Mittagspausen-Gedanken. Zitate aus dem aktuellen Wochenthread, aus einem Bericht zu #Ethnos. Für diejenigen, die dieses leichtgewichtige Mehrheiten-Spiel (BGG-Top-200 bei "strategy games" und Top-50 bei "family games") nicht kennen: Es wird reihum gespielt. In jedem Zug hat man eine von zwei Möglichkeiten: entweder ein passendes Set von Karten aus der Hand ausspielen oder eine neue Karte auf die Hand nehmen, und zwar entweder aus einer zentralen Auslage oder die oberste Karte vom Nachziehstapel. Der zentrale Kniff liegt jetzt darin, dass man beim Ausspielen von Karten den gesamten Rest seiner Kartenhand in die zentrale Auslage legen muss. Das Sammeln von Karten ist also nur bis zu einem bestimmten Punkt interessant, weil man irgendwann nur noch den Mitspielern hilft, indem man ihnen passende Karten auf dem Silbertablett serviert. Denn spätestens wenn man 10 Karten auf der Hand hat, muss man etwas ausspielen, und wenn man dann 6 seiner 10 Karten in die Auslage legen muss, freuen sich die Mitspieler sehr. Die entscheidende Frage bei Ethnos ist: wie lange will ich sammeln, bevor ich Karten ausspiele?


    Weite Teile des Spiels bestehen aus blind nachziehen, weil nix in der Kartenauslage liegt.


    Jein. Hängt von der Spielweise der Mitspieler ab. Wenn alle nur mauern und darauf achten, dem nachfolgenden Spieler bloß keine Vorlagen zu geben, also lieber selbst nur 2er und gelegentlich mal 3er Gruppen auslegen und nichts größeres sammeln, um bloß nicht zu viel in die Auslage legen zu müssen, dann ist das tatsächlich so. Meiner Meinung nach ist eine solche Spielweise auch eher ein Problem von Vielspieler-Runden als in der Familien- und Gelegenheitsspieler-Zielgruppe von Ethnos. Gelegenheitsspielern ist es tendenziell egal, wenn sie etwas in die Auslage legen, was der nachfolgende Spieler sammelt.


    Ich mag die Zentauren nicht, weil sie den eigentlichen Kniff des Spiels aushebeln.


    Die Zentaueren begünstigen solche Mauer-Strategien, gerade in Anfänger-Runden. Aber ich halte sie nicht für zu stark. Ich glaube jedoch, dass man sie in Vielspieler-Runden, die Ethnos zum ersten Mal spielen, unbedingt herauslassen sollte, denn sonst ist Gemauer mit schlechtem Spielerlebnis für alle quasi vorprogrammiert.

    (Erklärung für Leser, die Ethnos nicht kennen: Zentauren erlauben, beim Ausspielen nicht den gesamten Rest in die Auslage legen zu müssen, sondern aus der Rest-Kartenhand noch ein zweites Set zu spielen. Im Extremfall auch nur ein weiteres Ausspielen ohne jeden eigenen Nutzen, nur um die Karten nicht in die Auslage legen zu müssen.)


    Unerwartet viel Glück drin.


    Das ist dann die logische Folge, wenn man in einer Maurer-Runde 2/3 der Zeit nur blind zieht, weil die zentrale Auslage komplett leer ist. Eine gewisse Glückskomponente hat das Spiel durch das variable Rundenende ohnehin schon und wenn dann noch allzu viel blindes Kartenziehen dazu kommt, dann kann man natürlich keinen besonders tollen Eindruck mehr vom Spiel haben.




    Mal etwas grundsätzlicher. In der Spieltheorie kennt man unter dem Namen Nash-Gleichgewicht die Situation, dass jeder Spieler unter der Annahme, dass die Strategien der Mitspieler festgelegt sind, eine für sich optimale Strategie gewählt hat. Wenn das für jeden gilt, ergibt sich ein Gleichgewicht. Jeder spielt dann optimal, denn bei jeglicher Abweichung davon würde das Ergebnis für ihn schlechter.


    Ein Brettspieler ist normal geneigt zu denken, dass es bei einem Spiel nur eine optimale Strategie geben kann. Das ist so falsch. Die optimale Strategie hängt immer von den gewählten Strategien der Mitspieler ab. Auch bei Strategie-Diskussionen etwa in Foren wird die gegenseitige Interaktion allzu oft ausgeblendet und so getan, als könnte man Strategien unabhängig davon diskutieren. Bei vielen Spielen funktioniert das trotzdem mehr oder weniger, aber es gibt eben auch Spiele, da klappt das eher schlecht, und das liegt dann ganz wesentlich an der Anzahl der unterschiedlichen Nash-Gleichgewichte. Um das nochmal zu betonen: es ist nicht erforderlich, dass irgendjemand Mist zusammenspielt. Nein. Jeder spielt für sich gesehen sogar optimal, und trotzdem ist die Antworten auf die Frage "was ist die optimale Strategie?" nicht eindeutig, sondern hat mehrere Lösungen, die davon abhängen, was die Mitspieler machen.


    Für symmetrische 2er-Spiele kann es nur ein einziges Nash-Gleichgewicht geben. Aber in Mehrspielerspielen gilt das gerade nicht, und dazu müssen diese Mehrspielerspiele auch nicht mal asymmetrisch sein. Auch bei komplett symmetrischen Mehrspielerspielen kann es nebeneinander mehrere Gleichgewichtszustände geben. Bezogen auf Brettspiele kann das insbesondere dann relevant werden, wenn (a) die Spielerreihenfolge fest ist (das üblicherweise immer im Uhrzeigersinn herum) und (b) Interaktion sich im wesentlichen dadurch ergibt, dass man mehr oder weniger starke Vorlagen für die Mitspieler gibt. Solche Designs sind enorm anfällig für mehrere Gleichgewichtszustände und das gilt dann gerne auch mal für die Extreme: alle mauern oder alle versuchen in erster Linie selbst zu punkten (und machen sich nicht allzu viele Gedanken über unfreiwillige Vorlagen). Gerade in symmetrischen Spielen kann beides gleichermaßen eine optimale Strategie ein, falls die Mitspieler auch entsprechend spielen.


    Das heißt dann: wer als einziger von der allgemeinen Spielweise abweicht, der verliert, und das kann sehr wohl auch unabhängig voneinander für mehrere allgemeine Spielweisen gelten. In einer allgemein konstruktiv spielenden Runde muss man auch konstruktiv spielen. So hat sich das womöglich ein Spieleautor ausgedacht und die Spieletester haben das Spiel daraufhin getestet. Aber sobald nicht mehr nur einer, sondern alle am Tisch destruktiv spielen, gewinnt man mit der gleichen konstruktiven Spielweise dann auf einmal keinen Blumentopf mehr, sondern ist gezwungen, ebenfalls destruktiv zu spielen -- eben weil es ein zweites Nash-Gleichgewicht gibt. Meiner Meinung nach ist diese Problematik auch den meisten Autoren und Spieletestern nicht wirklich bewusst.


    Ethnos ist ein schönes Beispiel dafür. Ich habe es zwar erst zweimal gespielt (und beide Spiele überlegen gewonnen), aber ich bin mir relativ sicher, dass Ethnos auch zu diesen Spielen mit mehreren Nash-Gleichgewichten gehört, insbesondere beim Spielen mit mittleren Spielerzahlen, so dass die letzten positiven Resteffekte vom Befüllen der Auslage nach einer Spielrunde gerade noch bis zu einem selbst wieder zurückkommen können. Wenn bei Ethnos alle nur mauern, dass hat man nichts davon, selbst größere Sets zu sammeln. Mit dem Ablegen der Restkarten verteilt man nur Punkte auf die Mitspieler, während man selbst nichts von den anderen abbekommt. Und umgekehrt gilt: wenn alle halbwegs konstruktiv spielen und die Auslage gelegentlich befüllen, dann schießt sich nur selbst ins Bein, wer immer bloß bei erstbester Gelegenheit kleine Sets ausspielt, weil die notwendige Auswahl für höher punktende Sets ja eigentlich da ist. Also legt man auch selbst wieder genug Karten in die Auslage. Auch dies ist ein stabiler Gleichgewichtszustand -- und zwar im Gegensatz zum ersten der von Autor gewollte.


    Ich halte Ethnos für ein hochinteressantes Spiel, allerdings nur für ein mittelmäßiges Design. Ersteres, nämlich hochinteressant, weil ich nach meinen beiden bisherigen Ethnos-Partien schon wesentlich länger über das Spiel nachgedacht habe als ich es zuvor gespielt hatte. ;) Zweiteres, weil es als Spiel leider latent instabil ist, und das ist dann eben kein gutes Spieldesign mehr. Es lohnt sich übrigens, auch mal bei BGG nach den Kommentaren zu dem Spiel zu schauen. Die eine Hälfte findet es toll, die andere Hälfte sagt: "Was für ein hirnloses Glücksspiel, wir haben alle nur die meiste Zeit blind gezogen!" (Letzteres war übrigens auch der allgemeine Ersteindruck meiner Mitspieler bei meiner Erstpartie. :) Ich wollte es dann unbedingt noch ein zweites Mal spielen, weil ich geahnt habe, dass das nicht alles sein kann.) Der Witz ist: Beide Gruppen haben absolut recht. Das Spiel erlaubt gleichermaßen beide Spielweisen: die, die Spaß macht, und die, die aus 2/3 blindem Nachziehen besteht. :)



    Randbemerkung für mitlesende Autoren und Redakteure: An Spiele, die davon leben, dem nachfolgenden Spielern größere Vorlagen gibt, muss man eigentlich nur eine variable Spielerreihenfolge dranpappen. Das beschriebene Problem des "ich muss mauern, wenn alle anderen auch mauern" löst sich damit im Normalfall schon in Luft auf, weil es dann jeder Spieler durch Spielaktionen selbst in der Hand hat, sich in der Spielerreihenfolge hinter den vermutlich nächsten Vorlagengeber zu hängen und umgekehrt den Platz hinter dem Mitspieler zu vermeiden, von dem aktuell (oder gar dauerhaft) nichts an brauchbaren Vorlagen zu erwarten ist.


    Randbemerkung für Erklärer von Ethnos: weist unbedingt ausführlich darauf hin, wie viele Punkte die großen gesammelten Kartensets geben. Wenn die Mehrzahl der Mitspieler eher an das eigene Punkten denkt als an das Verhindern des Punktens der Gegner, dann strebt das Spiel automatisch in Richtung "angenehmerer Gleichgewichtszustand". ;)

  • Sehr schöne Gedanken. :)

    Jein. Hängt von der Spielweise der Mitspieler ab.

    Ich glaube, hier auch stark von der Spieleranzahl.

    Wir haben eigentlich nicht "gemauert", die wenigsten kamen jemals in Verlegenheit, mehr als 5-6 Karten auf der Hand zu halten (und wenn, dann sammelten sie gerade Halblinge oder sowas). Viele Kampfgruppen waren nur 1-2 Mann stark, und auch nicht allzu oft größer als unbedingt nötig.


    Aber wenn 6 Leute auf die Auslage zugreifen, dann ist die schneller leergeplündert, als sie nachwachsen kann, und dann ist da oft nix mehr drin, was irgendwen interessiert.

    Insgesamt fühlte es sich für mich so an, als griffen die Spieler viel zu oft - gezwungenermaßen - nach den blinden Karten.

    Weil einfach sonst nichts sinnvolles zu tun war.


    Gleichzeitig fühlt sich dieser Zug aber auch an wie der "Trostpreis", die schlechtere Alternative, wie man sie aus vielen anderen Spielen kennt (sowas wie "wenn du sonst nix hinkriegen kannst, nimm 3 Gold").


    Zusammengenommen: ein bisschen "unrund" oder "unschön".


    [Zentauren] Aber ich halte sie nicht für zu stark

    Ich auch nicht. Die anderen Dinger machen ja auch ziemlich wilde Sachen.


    Ich mag nur nicht, dass sie das zentrale Element des Spiels (zumindest den Grund, warum ich es überhaupt interessant finde) wenigstens aufweichen, wenn nicht gar aushebeln.

    Das finde ich persönlich immer seltsam, wenn ein Spiel auf einem echt coolen Element aufbaut, und dann wird es mit den erstbesten Sonderregeln schon wieder über den Haufen geworfen.

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  • Viele Kampfgruppen waren nur 1-2 Mann stark, und auch nicht allzu oft größer als unbedingt nötig.

    Eben das ist mauern. Kleine Gruppen sammeln und wenig bis nichts beim Ausspielen in die Auslage legen. Für die erste der drei Phasen (3x Deck durchspielen) ist das noch okay, aber nachher sollte von schauen, in die Regionen auch seinen dritten oder vierten, vielleicht auch fünften Marker legen zu können. Die entscheidenden Regionen gewinnen ist wichtiger als überall vertreten zu sein.


    [nicht] mehr als 5-6 Karten auf der Hand zu halten (und wenn, dann sammelten sie gerade Halblinge oder sowas)

    In meiner Erstpartie hat auch jemand Halblinge gesammelt. Nach Runde 1 mit mir zusammen vorne, nach Runde 3 abgeschlagen hinten. Halblinge sammeln heißt, keine Marker legen zu können. Das rächt sich gegen Ende bei den Mehrheitenwertungen böse.


    ein bisschen "unrund" oder "unschön"

    Ich kann gut nachvollziehen, was du meinst. Aber glaub mir: mit etwas mehr Spielerfahrung werden die Mitspieler tendenziell mehr sammeln, weil (a) größere Sets mehr Punkte bringen und (b) man in Phase 2 und erst recht in Phase 3 sonst keine Marker platzieren kann, und die braucht man wegen der Mehrheiten. In dem Moment, wo man mehr sammelt, legt man auch mehr in die Auslage und das Spiel wird "runder".

    Ich will das Spiel jetzt nicht schön reden. Ich habe es mir nicht gekauft und plane das auch nicht. Das Spiel hat Design-Schwächen. Aber es steckt mehr Qualität drin, als du bisher gesehen hast. Davon bin ich überzeugt.

  • Ich wundere mich gerade, wie du zu deinen Ideen kommst, wie das Spiel bei uns ausgesehen haben soll.

    Mag sein, dass du dir aus meinen kurzen Aussagen das rauspickst, was für dich relevant ist... aber das ist einfach Quatsch/Mumpitz/Humbug.


    Selbstverständlich haben wir auch fleißig größere Truppen aufgebaut, um mehr Punkte zu machen, Mehrheiten auszubauen usw.

    (wäre ja irgendwie bescheuert, das nicht zu tun)

    Natürlich wurden immer wieder mal 4er, 5er, 6er Gruppen ausgespielt.

    Natürlich landeten immer wieder mal 3,4,5,6 Karten in der Auslage.


    Ändert nichts an dem einen Punkt, den ich habe:

    Man musste öfter, als mir lieb wäre, auf den Nachziehstapel vertrauen.

    Weil die Auslage sich nicht von alleine füllt, bzw weil die Mitspieler sie so schnell leerräumen.


    Und es gibt doch klar diese Hierarchie in den drei Aktionen:

    1. Ich spiele Karten aus, die mir in den Kram passen.

    2. Ich nehme eine Karte, die mir in den Kram passt, damit ich nächste Runde was cooleres ausspielen kann.

    3. Ich nehme irgendeine Karte.


    Das liegt nicht an irgendeinem "mauern" (was glaube ich ungefähr niemand am Tisch aktiv betrieben hat), das passiert einfach so.

    Zumindest in dieser Spieleranzahl.


    Und ich bin mir auch nicht sicher, was der letzte Satz soll.

    Ich habe dem Spiel bisher keine Qualitäten abgesprochen, wenn ich mich recht entsinne.

    (Edith sagt, ich mag die Grafiken nicht)

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    3 Mal editiert, zuletzt von PeterRustemeyer ()

  • Ich wundere mich gerade, wie du zu deinen Ideen kommst, wie das Spiel bei uns ausgesehen haben soll.

    Dann habe ich das "Viele Kampfgruppen waren nur 1-2 Mann stark" falsch verstanden.


    Ich kann jedenfalls berichten, dass sich bei uns von der ersten zur zweiten Partie (mit teilweise gleicher, teil anderer personeller Besetzung) ein deutlicher Lerneffekt eingestellt hatte und die zweite Partie schon wesentlich "runder" lief. Weil man mehr gesammelt hat, weil man aus der Auslage nur etwas genommen hat, was man direkt brauchen konnte, weil vielen bewusst war, im dritten Durchgang größere Sets zu brauchen. Der "man zieht fast nur planlos Karten vom Nachziehstapel und hofft auf das Beste"-Effekt war weitgehend weg.

    Einmal editiert, zuletzt von MetalPirate ()

  • Ja, du hattest glaube ich mal erwähnt, dass du mit Stichspielen wie Skat nicht viel anfangen kannst... Da ist Mauern, wenn man z.B. beim Reizen keinerlei Risiken eingehen will und lieber darauf hofft, mit seiner starken Kartenhand dem Alleinspieler sein Spiel zu zerschießen. Übertragen auf Ethnos: bloß nichts in die Auslage legen, lieber bei drei Karten den 2er mit Zentauren spielen und die dritte Karte einzeln hinterher als dass man riskiert, vier nicht zusammenpassende Karten zu bekommen, von denen man mindestens eine in die Auslage legen muss.