Mathematik und Balance in Spielen

  • Angeregt duch die Diskussion im Thread zu Tom Felbers Abschieds-Blogpost möchte ich hier gerne tiefer mathematische Grundlagen bei der Spieleentwicklung, deren Architektur und Balance eintauchen.


    Technische Details dürfen gerne diskutiert und verlinkt werden. Bitte keine Angst vor Fachbegriffen. Entzaubern und Analysieren von Spielen oder einzelnen Mechaniken ist explizit erwünscht.

    Positive und negative Beispiele dürfen gerne gepostet werden, ich bitte aber darum, diese als Beispiele und Meinungen zu betrachten. (Also Seitenlange Diskussionen ob Karte XY jetzt imbalanced oder broken ist würde ich lieber vermeiden. )

    Es soll mehr um das große Ganze gehen und auch gerne Links zu Leuten die so etwas schon mal gemacht haben.


    Ich denke beispielsweise gerade darüber nach:

    • Wie kann man ein Spiel mit Hilfe einer Simulation von stochastischen Prozessen testen? Denn der stochastische Prozess findet ja in der Regel nicht den sinnvollen Gegenzug und bewertet daher Strategien spieltheoretisch nicht besonders angemessen. Wie bekommt man das gelöst?
    • Gibt es Spiele, welche sich im Wesentlichen auf klassische Probleme des Operations Research eingrenzen lassen? Zum Beispiel Elfenland hat durchaus Einiges mit dem Problem des Handelsreisenden zu tun...

    Naja. Ich freue mich auf eure Ergüsse.


    Und PS: Wer hier einfach nur eine Entzauberung der Magie der Spiele befürchtet und derartige Analysen ablehnt (was ich voll verstehenkann) ... ein kleines Ignore hilft weiter.

  • Funkenschlag, zumindest der Teil auf der Karte, ist so weit ich es verstehe pure Graphentheorie

    Yep. Da lassen sich dann gewisse mathematische Konzepte bzw. entsprechendes Verständnis direkt gewinnbringend anwenden. Und bei Barrage hat man sogar Optimierungen auf gerichtete Graphen (Verbindungen mit definierter Wasserfließrichtung).

    Aber so interessant ich das Thema grundsätzlich finde: ein Spieleforum ist nicht der richtige Platz, um wirklich mathematische Modellierung, KI, Spieltheorie, Systemtheorie, diskrete Optimierung oder ähnliches zu diskutieren. Die Sprache der Mathematik sind Formeln und dafür ist der Texteditor hier einfach nicht ausgelegt. Außerdem geht der Aufwand, um sowas wirklich sauber aufzuschreiben, ganz schnell über das hinaus, was man so aus Lust und Laune mal im Forum schreibt.

    Bei Diskussionen um nicht balancierte Sachen gilt das umso mehr. Mir reicht da normalerweise ein gut begründeter Eindruck der fehlenden Balance, um ein Spiel normalerweise nicht mehr aktiv spielen zu wollen. Ggf starte ich dann nochmal einen Thread wie z.B. hier bei BGG, aber spätestens wenn da nichts kommt, ist das Spiel dann für mich durch (und zum entsprechenden Verlag denke ich mir dann meinen Teil).

  • Pseudo-Anwendung vom Gesetz der großen Zahl:


    #Flügelschlag vs #RaceForTheGalaxy

    Recht ähnliche Spiele, aber der große Unterschied, warum RftG für mich funktioniert und Flügelschlag nicht, ist der gefühlt vielfach höhere Kartendurchsatz.

    Bei RftG habe ich das Gefühl, ich kann mir aus den zig Karten, die ich sehe, eine "Strategie" basteln, bei Flügelschlag fühle ich mich dem Zufall ausgeliefert und mache dann einfach irgendwas (nennen wir das mal "taktisch?").

    Mein Blog (Illustrationen, Brettspieldesign, Angespielte Spiele)

  • Aber so interessant ich das Thema grundsätzlich finde: ein Spieleforum ist nicht der richtige Platz, um wirklich mathematische Modellierung, KI, Spieltheorie, Systemtheorie, diskrete Optimierung oder ähnliches zu diskutieren

    Ich denke darum ging es koala-goalie auch gar nicht. Eher auf Verlinkungen zu etwaigen Analysen

    Ich gebe hier, auch wenn ich es im Text nicht explizit erwähne, immer meine persönliche Meinung wieder.

  • Exkurs zur Motivation:

    Ich bin kein Spieleautor und habe auch nicht vor einer zu werden ... aber ich habe mich eben gefragt wie ich mit den Mitteln mathematischer Modellierung an eine Spieleentwicklung heran gehen würde. Welche Werkzeuge funktionieren?


    Und da freue ich mich über Links oder Ideen wie man herangeht. Berichte von Leuten die sowas mal gemacht haben.

    Weil Balance hier mathematisch zu beschreiben ist ja gar nicht so einfach.


    Zweiter Zweck ist einfach ein gewisser Gedankenaustausch.

    Ich erwarte nicht, dass hier irgendwer eine mathematische Arbeit abfasst oder in R Simulationen programmiert. (Die wenigsten hier verdienen Geld damit und diejenigen die es tun mögen ihre Geheimnisse gerne behalten.)


    Vielleicht schaffe ich es heute Abend da ein paar detaillierte Ergüsse aufzuschreiben.

  • Mal kurz die Sicht eines Spieleredakteurs, der ein paar Semester Statistik (ohne Abschluss) studiert hat, was allerdings schon viele Jahre her ist:

    Nach meiner Erfahrung reicht ein halbwegs gutes Mathematikverständnis vollkommen aus, um ein Spiel gut zu balancieren. Nur wenige der Autoren, die Spiele gut balancieren, verfügen über tiefergehende Kenntnisse höherer Mathematik, wie z. B. Knizia und Rosenberg. Und ich halte das auch nicht für nötig.

    Ein Autor und/oder Redakteur sollte aber Spielmechanismen in einfache mathematische Verhältnismäßigkeiten bringen können, wie zum Beispiel den Einsatz von Rohstoffen, Geld oder Aktionspunkten zur Umwandlung in Siegpunkten umzurechnen. Vereinfacht gesagt: Wenn ich mit Aktion A aus 3 Geld 5 Siegpunkte machen kann, während ich mit Aktion B aus 4 Geld nur 4 Siegpunkte erhalte, stimmt die Balance nicht. Das ist auch noch leicht zu erkennen. Schwierig wird es dadurch, dass es selten nur um 3 Geld geht, sondern dass man zum Beispiel 3 Geld + 2 Bonuschip der Art H + 2 Rohstoffe der Art X und Y bei Aktion A ausgibt, während es bei Aktion B 4 Geld + 1 Bonuschip der Art G + 3 Rohstoffe X+Z+Z sind, die man ausgibt. Hier muss man also die Rohstoffe und Bonuschips der unterschiedlichen Art irgendwie in Geldwerte umrechnen, was schon etwas schwierifer ist, aber immer noch machbar für die meisten Autoren.

    Das ist natürlich nur ein einfaches Beispiel, keine Frage. In vielen Spielen sind die Probleme deutlich komplexer. Aber selbst ein Uwe Rosenberg mit Statistik-Diplom rechnet seine Spiele nicht nur durch, sondern macht vor allem eins: Testen, testen, testen. Denn eine reine mathematische Betrachtungsweise berücksichtigt einige Faktoren überhaupt nicht, wie zum Beispiel psychologische Effekte. Ich habe selbst schon oft erlebt, dass eine rein mathematisch beste Entscheidungsoption von Spielern absolut nicht genutzt wurde, weil sie sich schlechter anfühlte, als sie mathematisch war. Und wenn Spieler dadurch eine mögliche Siegstrategie gar nicht nutzen, verändert sich unter Umständen auch die Statik anderer Siegstrategien, je nachdem wie abhängig diese von Interaktion sind.

    Und genau deshalb ist eine mathematisch perfekte Balance aus meiner Sicht nicht notwendig, sondern eine annähernd ausgeglichene Balance reicht bereits aus, damit ein Spiel gut funktioniert. Schließlich ist das Ziel fast aller Spiele nicht, bei einer Meisterschaft gespielt zu werden, in deren Vorfeld dann evtl. doch eine beste Strategie entdeckt werden könnte, deren Siegwahrscheinlichkeit im Spiel zu viert zwischen 25% und 30% liegt ...

    :2cent:

  • Und genau deshalb ist eine mathematisch perfekte Balance aus meiner Sicht nicht notwendig, sondern eine annähernd ausgeglichene Balance reicht bereits aus, damit ein Spiel gut funktioniert.

    Da stimme ich zu. Aber ich sehe es so wie Tom Felber auch, selbst die "annähernd ausgeglichene Balance" wird bei vielen "nice, new & shiny"-Veröffentlichungen nicht (mehr) angestrebt.

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  • Das ist mir etwas zu pauschal. Ich denke, das hängt oft von der Erfahrung des Verlags ab. Kickstarterspiele von neuen und unbekannten Verlegern bergen sicher eine etwas größere Gefahr, dass die Balance evtl. nicht stimmt, weil die redaktionelle Erfahrung hier mitunter fehlt. Aber auch das ist nicht pauschal der Fall, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit sehe ich hier höher.

    In Einzelfällen mag es auch Verleger geben, denen die Balance wirklich egal ist. Aber ich glaube nicht, dass dies wirklich "viele" sind.

  • Hallo,

    ich bin überhaupt kein Freund von Titeln, die zu balanced sind. Womöglich noch leicht durchschaubar. Wenn jede Handlung genau 2 Punkte bringen, werden die Entscheidungen banal.

    wie zum Beispiel den Einsatz von Rohstoffen, Geld oder Aktionspunkten zur Umwandlung in Siegpunkten umzurechnen.

    Wenn ich einen Titel für Entscheidungshilfen durchrechnen möchte, habe ich den Ansatz, den Wert des durchschnittlichen Spielergebnis anzuschauen und den durch die übliche Anzahl von Zügen zu teilen. Das ergibt dann in etwa den Wert, den ein guter Zug bringen sollte. Mit dem Zugwert fällt es mir auch leichter, den einzelnen Komponenten Werte/Größen zuzuordnen und damit weiterzurechnen.

    Liebe Grüße
    Nils (wird immer traurig, wenn er das Rechnen beginnt. Erfahrungsgemäß ist er dann mit dem Titel bald durch.) :/

  • Vereinfacht gesagt: Wenn ich mit Aktion A aus 3 Geld 5 Siegpunkte machen kann, während ich mit Aktion B aus 4 Geld nur 4 Siegpunkte erhalte, stimmt die Balance nicht.

    Das ist soweit völlig offensichtlich. Trotzdem gibt es immer wieder Spiele, wo selbst das nicht stimmt, bei manchen Verlagen sogar in gewisser Regelmäßigkeit. (Hallo, NSKN früher bzw. Board & Dice heute...)


    eine reine mathematische Betrachtungsweise berücksichtigt einige Faktoren überhaupt nicht, wie zum Beispiel psychologische Effekte.

    Soweit bin ich noch voll bei dir. Es ist ein Graus, wenn sich ein Spiel nach mathematischer Optimierarbeit anfühlt. Der Zugang zu einem Spiel ist immer ein emotionaler, vor allem durch das gewählte Thema. Darauf sollte ein Autor unbedingt achten. Dennoch bin ich der Meinung, dass unter der Oberfläche die Mathematik mindestens zu 98% stimmen muss. Es muss halt unter der Oberfläche bleiben, denn die Mathematik ist niemals Selbstzweck.


    Ich habe selbst schon oft erlebt, dass eine rein mathematisch beste Entscheidungsoption von Spielern absolut nicht genutzt wurde, weil sie sich schlechter anfühlte, als sie mathematisch war. [...] Und genau deshalb ist eine mathematisch perfekte Balance aus meiner Sicht nicht notwendig

    Kannst du da Beispiele nennen?

    Und ist dann wirklich das Balancing das Problem oder nicht doch eher die Diskrepanz zwischen dem, was der Spieler siegpunkttechnisch tun soll, aber thematisch betrachtet nicht wirklich tun will? Also konkret: wenn der Spieler die mathematisch beste Option einfach nicht nutzen will, sollte ich sie dann wirklich noch mehr bepunkten oder nicht vielleicht eher an der psychologischen Komponente etwas tun, so dass er sie lieber nutzt und die die perfekte mathematische Balance erhalten bleibt? Denn wenn einmal die Balance zerschossen ist, dann wird es auch Spielgruppen geben, bei denen ein starker Spieler das auch erkennen und ausnutzen wird.

  • ich bin überhaupt kein Freund von Titeln, die zu balanced sind. Womöglich noch leicht durchschaubar. Wenn jede Handlung genau 2 Punkte bringen, werden die Entscheidungen banal.

    Balance und Beliebigkeit sind zwei grundverschiedene Sachen.

    Balance heißt, dass man mit ganz unterschiedlichen Strategien eine Gewinnchance haben kann, wenn die äußeren Umstände passen. Gut spielen muss man immer noch selbst und selbstverständlich gibt es auch in perfekt balancierten Spielen immer noch gute und schlechte Zugoptionen.

  • Ich glaube, es sind zwei verschiedene Dinge zu unterscheiden:


    1.) Balancing zwischen verschiedenen Strategie. Hier dürfen unterschiedliche Strategien unterschiedlich gut sein, aber es soll keine dominante Strategie geben. Oftmals behaupten Spieler, sie hätten eine dominante Strategie gefunden. Manchmal funktioniert diese Strategie aber auch nur, weil ihre Mitspieler keine Gegenstrategie gefunden haben oder einfach schlecht spielen.


    2.) Balancing in asymetrischen Spielen wie Tepestry oder Twilight Imperium. Hier ist das Balancing ungleich schwerer, da unterschiedliche Player Power sich gegenseitig beeinflußen. Teilweise kann man aber ein Ungleichgewicht zulassen, wenn das Spiel soziales Balancing erlaubt (Spieler kooperieren um den Führenden zu stoppen).

    Fabian Zimmermann - Autor von Tiefe Taschen / GoodCritters

  • Dennoch bin ich der Meinung, dass unter der Oberfläche die Mathematik mindestens zu 98% stimmen muss. Es muss halt unter der Oberfläche bleiben, denn die Mathematik ist niemals Selbstzweck.

    Absolut deiner Meinung.

    Kannst du da Beispiele nennen?

    Auf die Schnelle leider nicht. Wobei das mitunter auch keine fertigen Spiele waren, sondern Prototypen während der Testphase.

    Also konkret: wenn der Spieler die mathematisch beste Option einfach nicht nutzen will, sollte ich sie dann wirklich noch mehr bepunkten oder nicht vielleicht eher an der psychologischen Komponente etwas tun, so dass er sie lieber nutzt und die die perfekte mathematische Balance erhalten bleibt?

    Im Normalfall natürlich Letzteres, keine Frage.