Es gibt ja Menschen, die sind Extremspieler, und wissen es nicht. Sie spielen "immer gerne was mit, aber es ist doch selten", weil keiner mit ihnen spielt. Tragische Existenzen mit vergeudetem Potenzial; in ihnen wohnt eine Sehnsucht, und sie wissen nicht, wonach...
Eine wirklich langjährige Freundin entpuppte sich am Wochenende ohnzweifel als solche. Ich wusste schon immer, sie spielt - wie ich - gerne und ausgiebig Videospiele. Hin und wieder fielen Worte in Richtung "würde auch Brettspiele häufiger spielen", aber irgendwie ist es nicht so richtig zu mir durchgedrungen. Ich könnte mich verkloppen im Nachhinein. Aber diesmal war es so weit, irgendwie hatten wir Spielen auf dem Plan, wo wir sonst bei Treffen eigentlich nur labern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich an diesem Tag als Geisel meiner Höflichkeit in meinem eigenen Wohnzimmer festsitzen würde, mich ängstlich an meine Karten klammernd, während von unten zum wiederholten Male der Mann hochklingelt, wir mögen doch bitte zum Essen kommen, während meine Gästin mich mit "warte kurz..." "WART NOCH KURZ, ICH MUSS ZUENDE DENKEN!!" am Spieletisch festsetzen würde...
Welches Spiel, fragt ihr, hat eine solche Sucht erzeugt, gleich beim ersten unserer Versuche?
Kein bombastischer Komponentenbrecher, der zu schön ist, um nicht geliebt zu werden, keine mechanische Glanzleistung und kein süßes Knuddeltier-AAWWW-Herzchenaugen-Thema, sondern ein Titel, den ich (kongenial, wie ich jetzt merke und in aller nötigen Bescheidenheit behaupten darf) bereits vor Jahren im "Mit welchen Spielen würdet ihr Nichtspieler versuchen ins Hobby zu holen"-Thread (oder halt so ähnlich formuliert; ich bin nur ein Genie, keine Festplatte!) aufgeführt hatte; ein Titel, bei dem mir doch bei jeder Vorstellung die Angst im Nacken sitzt, es sei zu abstrakt, zu sehr "tausche rote Würfel gegen grüne Würfel - ok und wo ist der Spaß?", zu sehr "belanglose Entscheidungen" - und dennoch, meinem Mann und mir jedenfalls, sehr viel Spaß gemacht hat und eine Weile rauf und runter gespielt wurde, dabei genug "Tiefe" (...ok ich weiß nicht, ob das Wort es wirklich trifft...) bei gleichzeitig einfachen Regeln rüberbringt, dass es für an Herausforderungen und Lernkurven interessierten Leuten, auch wenn sie wenig Spieleerfahrung haben, schnell spannend wird; andererseits kann die Auslage auch einfach Mist sein und dann zieht es sich wie Kaugummi und man hat den Salat... kurz, meine Gefühlswelt oszilliert jedesmal, wenn ich diesen Titel an den Mensch zu bringen versuche, zwischen Hoffen und Bangen, zwischen echter Überzeugung und räudigem Zweifel.
Jedoch wurde mir meine Entscheidung abgenommen, denn genau dieses Spielchen zog mein Mann zielsicher aus dem Regal und frug "spielen wir eine Runde?"
Und obwohl die erste Partie etwas regelholprig war - egal wie einfach, nicht jede Regel passt in jede Hirnwindung, manches wird als unlogisch empfunden, worauf ich nie gekommen wäre, manches als unintuitiv - wurde von meiner Freundin UMGEHEND eine zweite gefordert, da sie schon während dieser Partie gegen Ende bemerkte, dass sie durch wachsendes Verständnis mehr Kontrolle über das Spielgeschehen hatte, obwohl sie zu Beginn noch dachte "das soll Spaß machen?".
Dann noch eine Runde und noch eine. Und noch eine. Während sie über ihre Züge brütet, werden mein Trashtalk und der Versuch, nebenher noch über was anderes zu reden, höflich aber bestimmt im Keim erstickt. Sie war IN THE ZONE. Noch eine Runde. Noch eine. "Das macht ja richtig Spaß, wenn man es erstmal kann!" "Oh man, du gewinnst schon wieder, naja, hast ja auch mehr Erfahrung." "Ich hab ganz vergessen, wie sehr man gewinnen will!!" "Mach du erstmal deinen Zug, dann ich meinen, dann du deinen, dann merken wir uns dass ich dran war und ich weiß dann auch noch, was ich machen wollte" (letzteres hörte ich, bevor sie uns endlich gestattete, zu Tisch zu schreiten, wo mein Mann, der nur die erste Partie mitgespielt hatte, schon traurig über dem kalt gewordenen Gegrillten hing).
Die Heimreise wurde mehrfach verschoben, "ok die Bahn muss ich WIRKLICH nehmen - Viertelstunde ist noch - schaffen wir dann noch eine Partie?? Ach egal dann fahr ich doch später" ... nachdem sie sich endlich loseisen konnte und wir den Weg zur Bahn antraten kam es noch zu weiterem Geschwärme und wie sie immer weiter spielen könnte und wie viel Spaß es macht und hach und weh und dass ja sonst niemand mit ihr spielt, sonst hätte sie sich das Spiel ausgeliehen, und hach, es war eine Wonne.
Nächstes Mal hab ich an was kooperatives gedacht, Robinson Crusoe oder Paleo. Da ist sie auch schon ganz heiß drauf. Abends wurde dann noch gewhatsapped, dass sie ja iiiimmer weiter machen könnte, "tausche 2 rot gegen 2 Zimt :D"... süüüüß!
Ach so, wenn ihr's unbedingt wissen wollt und noch nicht drauf gekommen seid, das Spiel, das mich eine andere Seite an meiner Freundin hat kennenlernen lassen war
Century - Die Gewürzstraße. Ich glaube, die anderen beiden Teile sind spätestens jetzt ein Pflichtkauf...
Und ich bin mir immer noch sicher, dass es ein toller Gatewaytitel ist, aber TROTZDEM auch die Gefahren des absoluten Reinfalls bietet.